Freitag, 25.5.2018, 17 Uhr. Ich bin auf dem Weg zum Bielefelder Hauptbahnhof. Zu Fuß, im Anzug, mir ist warm. Unterwegs lese ich auf meinem Handy bei Facebook quer. Unfassbar, da gibt es einfach nur noch Scheiße. Ich weiß nicht, wann ich den letzten gemäßigten Artikel zur Flüchtlingskrise gelesen hab. Ich werde den Teufel tun, mich jetzt selber dazu zu äußern, aber es scheint nur noch „Öffnet Tür und Tor, Eigentum ist Diebstahl, wer was anderes sagt ist ein Nazi“-Artikel oder eben „Schießbefehl an der Grenze! Die klauen uns alles. Der dumme, ungebildete Ausländer nimmt mir meine Arbeit weg“-Artikel zu geben. Ich würde mir wünschen, mal wieder irgendwas dazwischen zu hören. Aber gut. Handy weg. Guck ich mir lieber ein paar Beautyblogger auf insta an. Das entspannt den Geist.
Meine Reise geht nach Münster. Eigentlich sollte das mit dem ICE stattfinden, schließlich will ich ja im Bordbistro sitzen, um Harald Schmidt zu treffen. Schön ist auch, im Bordbistro gibt’s Hefeweizen und es wird recht wenig gesprochen. Niemand setzt sich zu einem Dicken in den Vierer, viel zu awkward. Leider ist mein ICE verspätet, so dass ich mit der Regionalbahn Vorlieb nehmen muss.
Natürlich rappelvoll, aber gut, vielleicht erleben wir ja was. Die Route verspricht jedenfalls einiges. Bielefeld – Brackwede – Isselhorst-Avenwedde – Gütersloh – Rheda-Wiedenbrück – Oelde – Neubeckum – Ahlen – Heessen – Hamm – Bockum-Hövel – Mersch – Drensteinstuf – Rinkerode – Hiltrup Münster.
Wunderschönes Westfalen. Ja, liebe Generation Y, hier werden Baukredite abbezahlt, hier halten Ehen, hier muss man nach Hause, wenn die Laternen angehen. Wie es immer so schön heißt, der Westfale hält, was der Rheinländer verspricht.
Ausflug
Mir gegenüber sitzt eine Rentnerreisegruppe. Zumindest würde ich sie so bezeichnen. Die haben gerade die Dr.-Oetker-Welt in Bielefeld besichtigt. Geil. Da will ich auf mal hin. Weiß jemand, was es da zu sehen gibt? Scheint mir doch ein tolles Ausflugsziel zu sein. Ich weiß noch nicht genau, was für ein Verein diese Rentnerreisegruppe ist. Tippe auf Kegelclub oder irgendwas von der Kirche. Hier in Westfalen wird die Vereinsmeierei noch großgeschrieben. So lob ich mir das! Tolle Sprüche sind inklusive. Schaffnerin beugt sich über zwei männliche Fahrgäste, um das Fenster zu öffnen, Kommentar eines der Fahrgäste: „Wollen wir nicht erstmal Essen gehen?“ Ja, ich habe auch einen Moment gebraucht.
Der Typ mit der Dr.-Oetker-Welt-Tüte auf dem Schoß erzählt, dass er seit seinem Führerschein 1966 alle seine Autos bei dem VW-Händler „an der Kreuzung“ gekauft hat. Und trotzdem hat er auf die Reparatur vom Getriebe nur den Rabatt bekommen, weil sein Schwager da 40 Jahre gearbeitet hat. So funktioniert Treue, liebe Generation Y.
Ich bin richtig zufrieden mit diesem westfälischen Stereotyp des Konservativismus. Das sind noch Leute, die hier den Laden am Laufen halten und nicht den ganzen Tag Hasskommentare auf Facebook posten.
Auch wenn ich mich der Rentnerreisegruppe am liebsten anschließen würde, das Pärchen rechts von mir ist genauso interessant.
Ok, ich fühle mich alt
Wobei Pärchen falsch ist, die beiden sind offensichtlich nicht zusammen, sondern er ist hart gefriendzoned. Die Beiden sind den Erzählungen zu Folge 18 oder 19 Jahre alt, zumindest geht es um einen Abiball thematisch.
Ziel der beiden ist heute aber „Die Base“ in Münster. Auch mit Google-Unterstützung kann ich nicht rausfinden, ob es sich dabei um einen Club/Kneipe dort handelt, daher gehe ich davon aus, dass das ein trendiger Name für das Vortrinklager ist. Jedenfalls hat wohl ein Mädel aus der Schlauchgruppe (?!?!) geschrieben, dass sie auch gleich dorthin kommt.
Was für Mucke macht eigentlich Rise Against?
Er trägt ein weißes Rise-Againt-Shirt. Die Band war mir ja immer zu hart irgendwie. Dazu haben immer die Spakkos in der Dorfdisco gepogt. So wie System of a Down, oder? Dazu trägt er eine viel zu große „Basketballhose“, schwarze Vans, RayBan Wayfarer und eine schlecht sitzende Wollmütze. Achja, und Tunnel in den Ohren. Kann mir mal jemand helfen, was das für ein Style ist? Sehen so Leute aus, die Rise Against hören?
Sie hat einen Ring durch die Nase, einen schwarzen kurzen Lederrock und ein schwarzes Shirt an. Auch hier brauche ich jungendkulturmäßig Unterstützung, liebe Leseer. Ist das Emo, auch ohne aufgemalte Träne?
Ich komme inzwischen echt nicht mehr hinterher, was die Jugendkulturen angeht. Früher gabs die Tussy in der Miss Sixty, den Punk mit dem Ärzteshirt und vielleicht noch einen langhaarigen Hippie oder Metaler. Achja, und die Hiphoper. Aber dann war gut. Irgendeine weitere Differenzierung hat mein Dorf nicht zugelassen, so auch im Jamaika-Artikel zu lesen.
Oh! Allergie hab ich auch!
Er trinkt Rockstar. Als sie fragt, warum, erklärt er, dass er sich vorhin vier Cetirizin reingeworfen hat und das ja so müde macht. Hier klinke ich mich kurz ins Gespräch ein: „Schuldigung, haste noch so eine Tabeltte?“. Jawoll! Das habe ich jetzt gebraucht und hoffe inständig darauf, nicht durch irgendeine Geheimsprache jetzt plötzlich Extacy in der Hand zu halten.
Auf einen Schluck Rockstar zum Runterspülen verzichte ich, aber danke fürs Angebot. Meine Allergie bringt mich zu dieser Jahreszeit immer fast um.
Jetzt beginnen die Beiden, über mich zu sprechen, während ich zwei Meter daneben sitze. „Ey, dass du so einem Typen im Anzug überhaupt antwortest, hätte ich ja nicht gedacht.“ Bin so verblüfft, dass ich gar nicht weiß, was ich schlagfertiges jetzt antworten könnte. Generell komme ich sprachlich einfach nicht mit. So höre ich das erste Mal in meinem Leben, wie jemand den Ausdruck „fly sein“ verwendet.
Sie trinkt Desperados. Gut, Desperados verstößt gegens Reinheitsgebot, aber sich Freitags nachmittags in der Regionalbahn ein warmes Bier reinzuziehen, erinnert mich schon sehr an früher und lässt mich das Bordbistro umso mehr vermissen.
Hoffnung
Neben all meiner Verwirrung beruhigt mich aber eines, die Geschichten sind die Gleichen. Es geht um die Musik auf der letzten Geburtstagsparty (war scheiße), den letzten Suff (war viel zu hart) und die letzte große Liebe (der hat mich doch nur verarscht). Das neue Album von XYZ wird sicher klasse, meine Mutter hat gesagt, sie kann uns nach dem Konzert abholen und achja, was machst Du jetzt eigentlich nach dem Abi? Plötzlich fühle ich mich wieder ganz nah. Darüber hätte ich mich wohl als Teenager auch auf einer Zugfahrt unterhalten und heute ist aus mir dieser erfolgreiche Internetstar geworden. Es ist also doch nicht alles so anders, wir müssen nur genau hingucken. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung und es ist alles gar nicht so schlimm. Glaubst Du nicht? Dann mal weg von der Verschwörungsseite auf Facebook und ab in die Regionalbahn. Da ist alles ein bisschen normaler.