Berlin, Boston, Tokyo, London, Chicago und New York. Jeder Marathon-Läufer kann diese Städte im Schlaf aufzählen. Diese Städte sind Gastgeber der „Super-6-Major-Marathons“. Nur knapp 10.000 Menschen haben alle 6 gefinisht und ich würde gerne einmal dazugehören.
Nachdem ich im letzten Jahr mit dem Chicago-Marathon den ersten Meilenstein setzen durfte, kam ich dieses Jahr etwas unverhofft an einen Startplatz für den New-York-City-Marathon. Ich hatte eigentlich nur gegoogelt, wann die Anmeldeformalitäten für 2026 beginnen, da habe ich einen deutschen Reiseveranstalter gefunden, der spontan für dieses Jahr noch einen Platz frei hat.
Ich musste nicht lange überlegen. Ob das Bucket-List-Item jetzt dieses oder nächstes Jahr die Haushaltskasse belastet, ist dann auch egal. Also habe ich Anfang September spontan eine Woche New York mit Lauf in der Mitte gebucht.

Wir spulen zum Renntag. Aufstehen 4 Uhr.
Guten Morgen
Ok, frühes Aufstehen ist man als Langdistanz-Triathlet ja gewöhnt. Da ist 3:30 Uhr eigentlich Standard. Aber warum heute so früh aufstehen? Ist doch eigentlich nur Laufen.
Der New-York-City-Marathon ist kein klassischer „Rundkurs“, wo Start und Ziel eng beieinander liegen, sondern führt durch alle 5 New Yorker Stadtteile. Bevor die Profis um 8 Uhr starten, müssen also erst mal alle 60.000 Läufer auf die Insel Staten Island gebracht werden, bevor das Nadelöhr, die Verrazzano-Narrows Bridge, schließt. Ich habe mich gegen die Anreise mit dem ÖPNV entschieden und den Bustransfer bei meinem Reiseveranstalter laufreisen gebucht, und da startet der Bus eben um 5 Uhr. Dazu kommt noch, dass es keinen Kleiderbeutel-Transport von Start zum Ziel gibt. Alle zurückgelassenen Klamotten am Start werden für Charity gespendet. So habe ich mir extra für diesen Tag den günstigen Jogginganzug des Internets geshoppt und trete somit bekleidet wie ein RTL-2-Gucker die Reise nach Staten Island an.
Das Start Village
Angekommen im „Start-Village“ habe ich also noch mehr als genug Zeit, mich mental auf den Tag vorzubereiten. Im Startbereich ist für alles gesorgt. Von kostenlosen Bagels, Kaffee bis hin zu Therapiehunden, die man gegen die Nervosität streicheln darf.

Natürlich komme ich schnell ins Gespräch mit anderen Läufern und wir schwelgen in Geschichten von anderen Wettkämpfen. Das ist auch immer das Gefährliche an der Ausdauersport-Bubble. In meinem gewöhnlichen sozialen Umfeld bin ich mit 6 Marathons der Extremfall, hier sieht das aber natürlich anders aus. „Das heute ist mein 8. Marathon dieses Jahr“, „Ich mache das nur, um mich für einen Ultralauf in Kapstadt zu qualifizieren“, „Mein Ziel ist unter 3 Stunden“.
Im Ausdauersport gibt es einfach viel zu viele kranke Schweine. Aber damit ihr das mal alle wisst: Ich bin ganz normal. Unter den Ausdauersportlern ein unerfahrener Einsteiger!
Guntime
Irgendwann ist die Wartezeit endlich vorbei und ich stehe auf der Brücke. Der Start ist so klischeehaft, wie es überhaupt nur sein kann. Die amerikanische Nationalhymne wird gesungen, ein lauter Kanonenknall markiert den Start und es läuft „New York, New York“ von Sinatra.

2007 haben wir uns den großen Familientraum von einem gemeinsamen USA-Urlaub an der Ostküste erlaubt. Davon haben meine Eltern meine gesamte Kindheit geträumt. Als der Reisebus damals in Manhattan reinfuhr, lief ebenfalls „New York, New York“ und ich erinnere mich, wie meiner Mutter die Tränen kamen. Jetzt in diesem Moment geht es mir ganz genauso. Wie Mama seinerzeit bin ich auch heute dankbar über meine Sonnenbrille.
Nun starte ich hier unter den 60.000 Läufern aus XYZ Ländern und blicke bei strahlendem Sonnenschein auf Freiheitsstatue und die Skyline von Manhattan. Links der Hudson, rechts der Atlantik. Von dort sollte die Titanic mal kommen.
Willkommen in der Matrix
Jetzt mal im Ernst. Das ist doch eine Simulation hier. Das passiert doch gerade nicht wirklich. Als ich in der 6. Klasse war, haben wir mal den WDR besichtigt und sind durch die Kulisse der Lindenstraße gelaufen. Genauso fühlt sich das hier an. Mein Warm-up-Lauf gestern war entlang von Central Park, Broadway und Times Square. Das klingt doch schon einfach nur, als hätte ich es mir komplett ausgedacht. Nach einer holprigen Anreise mit Landung in Boston und 4-h-Uber-Fahrt habe ich es irgendwie noch nicht geschafft, wirklich mental in New York anzukommen. Die permanente Reizüberflutung dieser Stadt ist wie der TikTok-Algorithmus des Todes. Dazu natürlich noch gepaart mit dem Vorsatz, vor einem Marathon nicht zu viele Schritte zu machen. Das ist doch alles ausgedacht hier. Eine Augmented-Reality-Simulation.

Einmal bitte alle Fehler machen
Aber zurück ins Rennen. Ich mache natürlich alles falsch. Auch wenn die 3 km auf der Verrazzano-Narrows Bridge die einzigen ohne Zuschauer sind, fällt es mir wirklich schwer, mich zurückzuhalten. Für alle Nachahmer hier mal der offensichtliche Tipp: Nicht zu hart anlaufen! Als es dann nach Brooklyn reingeht, geht der Wahnsinn aber erst so richtig los. Als IRONMAN natürlich schwer zuzugeben, aber die Geräuschkulisse der letzten 200 Meter vom roten Teppich in Frankfurt ist hier die ganze Zeit. Gekreische, sehr viel Livemusik, Jubel und wirklich witzige Schilder.

Temperaturmäßig ist es gerade in der Sonne noch wärmer als erwartet. 17 Grad im November sind irgendwie nicht, was man erwartet – auch wenn es natürlich in der Wetter-App stand. Mein Halstuch brauche ich folglich gar nicht und auch meine Basecap ist mir zu warm. Ich klemme sie an meinen Laufgurt. Jaja, Spoiler-Alert. Fällt natürlich irgendwann runter und ich merke es nicht. Meine Ryzon-Cap liegt jedenfalls irgendwo in NYC.
Bergetappe?
Zum sportlichen Teil: Ich hatte ja viel von den Höhenmetern gehört, aber so richtig verinnerlicht, was das bedeutet, habe ich nicht. Klar, ich hab mir auf der Brücke schon ein bisschen Körner zerschossen und das Bergablaufen hinterher ging auch auf die Muskulatur. Das Problem sind aber gar nicht allein die Brücken. Es geht mehr oder weniger die ganze Zeit auf und ab. Kein Kilometer ist wie der andere und mein Puls ist eigentlich nie im Zielbereich, sondern entweder zu hoch (weil es bergauf geht) oder zu gering, weil ich bergab versuche, den Schwung mitzunehmen und mir nicht zu sehr die Muskulatur zu zerschießen. Aber gut, das mit den Zeiten ist heute scheißegal.

Trotz der Anstrengungen vergeht die Zeit hier wie im Flug. Dankenswerterweise hat mir mein Kollege Timm seine Knochenschallkopfhörer überlassen, die ich am heutigen Tag aber keine 10 % der Zeit nutze. Der Sound vom Streckenrand pusht genug. Der erste Abschnitt „in meinem Kopf“ geht bis zum Übergang nach Queens bei km 13. Das ist der wichtigste Tipp im Leben eines Ausdauersportlers: niemals die komplette Distanz „denken“. Nicht 42 km vornehmen, sondern immer Schritt für Schritt.
Beim Schreiben dieses Blogartikels merke ich: Es geht gar nicht bei Kilometer 13 nach Queens. Es geht bei Meile 13 nach Queens. Erinnerungen verschwimmen bereits jetzt.
Echte Liebe beim New-York-City-Marathon
Schon ein ganzes Stück laufe ich hinter einem BVB-Trikot her, bis der Mann an einer BVB-Fahne am Streckenrand stehen bleibt und die dazugehörige Frau küsst. Natürlich gibt es nur eine echte Borussia (die Elf vom Niederrhein), aber war der Slogan von Dortmund nicht mal „Echte Liebe“? Das Bild würde sich gut dazu machen.

Halbmarathon ist in Sichtweite. Das ging wirklich flott und mit der Zeit von bis hierhin bin ich durchaus noch ganz zufrieden. Nun folgt die Queensborough-Bridge, der zweithärteste Anstieg des Tages. Fast alle um mich herum gehen und so lasse ich mich dazu hinreißen – was natürlich komplett bescheuert ist –, die Brücke relativ hart zu drücken. Einfach weil das Überholen pusht. Rückblickend wird das wohl der Moment sein, wo ich mir die letzten Körner rausgehauen habe, aber egal – hat Bock gemacht.

Bei Kilometer 25 geht es in Manhattan rein. Nun beginnt, wie ich finde, das mental nervigste Stück der Strecke. Obwohl der Central Park (und somit das Ziel) hier bereits in Spuckweite ist, müssen wir erst noch nach Norden laufen, um mit der Bronx auch noch den letzten Stadtteil mitzunehmen.
Psychologische Herausforderungen
Natürlich ist die Routenführung sportlich gesehen scheißegal. 42 km sind 42 km, aber psychologisch ist das irgendwie Mist und ich fiebere dem äußeren Wendepunkt entgegen. Inzwischen weiß ich nicht mehr, ob es Einbildung oder topographische Realität ist, aber die First Avenue geht gefühlt die ganze Zeit auch so ein kleeeeines Stück bergauf.

Auf der Brücke in die Bronx erreiche ich km 30 und ich blicke das erste Mal seit längerem wieder auf die Gesamtzeit und mache dabei eine schöne Entdeckung: Wenn ich mich jetzt konzentriert ranhalte, dann schlage ich meine Zeit aus dem letzten Jahr in Chicago. Das wäre noch mal ein ziemlich schöner Erfolg, vor allem da die Strecke in Chicago letztes Jahr definitiv leichter war. Auch wenn ich bei so Bucket-List-Rennen der Meinung bin, dass irgendwelche Zeiten sekundär sind, hilft so ein kleines Zwischenziel, um auch am Ende noch mal „dranzubleiben“. Es ist das schönere Gefühl im Ziel, wenn ich weiß, dass ich wirklich alles gegeben habe und eben nicht einfach nur zu Ende gewandert bin.
The Bronx
Um das Klischee vorwegzunehmen: In der Bronx riecht es ununterbrochen nach Gras. Tatsächlich hab ich die letzten Tage hier mehr Gras gerochen als auf der Abifahrt nach Kroatien. Das mit der Legalisierung scheint hier jedenfalls ganz gut gelebt zu werden. Wobei ich mir darüber bewusst bin, dass ich durch ein stark gefärbtes Fenster in die USA blicke. Chicago im letzten Jahr und auch New York sind wohlhabende, liberale Ostküsten-Städte. Realistisch betrachtet werden meine nächsten USA-Ziele vielleicht mal Kalifornien, hoffentlich mal Boston und ganz hoffentlich mal Hawaii werden. Alles schöne Ziele, das Land in seinem Facettenreichtum wirklich kennenlernen tut man so aber nicht. Es ist ein Demokraten-Liberal-Wohlstands-Blick.
Immer weiter bergauf

Zurück nach Manhattan. Es geht über die 5th Avenue Richtung Süden. Und auch wenn das geographisch jetzt natürlich keinen Sinn mehr ergibt, auch hier geht es die ganze Zeit bergauf. Ich checke es nachher noch mal auf der Karte: Hier geht es wirklich bergauf! First Avenue war Einbildung.
Bei km 25 habe ich noch gedacht „Bei km 35 bin ich ja schon fast da“, aber als ich dann bei km 35 bin, fühlt es sich komplett anders an. Bei km 38,5 endet endlich die niemals enden wollende 5th Avenue für mich und es geht in den Central Park rein.
Ein letzter Tanz
Da hier wenig Musik vom Streckenrand kommt, aktiviere ich noch einmal meinen Kopfhörer. DJ Shuffle gibt mir den großen Hit „Bella Napoli“ von Roy Bianco und den Abbrunzati Boys. Ein toller Song. Ich singe laut mit. Und wie soll ich sagen: Damit fällt man im Läuferfeld des NYC-Marathons bei km 40 nicht auf. Hier sind wirklich einfach alle bescheuert. Ich tanze weiter in Richtung Ziellinie. Wer weiß, wie viel Bier ich sonst so brauche, um genug Mut für die Tanzfläche aufzubringen, der kann sich vorstellen, was mein Endorphin-Haushalt hier gerade wohl so macht.
Letzte Verpflegungsstation. Noch mal 3 Becher Gatorade! „Das habe ich schließlich bezahlt“, sagt Jakob immer so schön.

Fast schon etwas wehmütig geht es auf die letzte Meile. Beim Schild „800 Meter noch“ stelle ich mir 2 Stadionrunden in Bielefeld vor. Mir tut alles weh, aber ich will trotzdem irgendwie nicht, dass es vorbei ist. Dann ist es aber soweit. Ich überquere die Ziellinie und habe sogar noch etwas Energie, die Arme hochzureißen. Wahnsinn. Es ist geschafft.
New-York-City-Marathon Finishline
Erste Amtshandlung: WhatsApp-Bild an die Family. „Gesund und glücklich“ sind die Adjektive, die Eltern hören wollen. Im Ziel bekomme ich den berühmten orangen Poncho übergeben und darf jetzt im Schneckentempo zum Central-Park-Ausgang humpeln.

Viele Läufer verfluchen diese 800 Meter. Ich genieße sie. Ich lasse mir alle Zeit der Welt und versuche, diesen Moment voll aufzusaugen. Ich verschone euch mal mit irgendwelchen Tellerwäscher-Millionär-Analogien, aber irgendwas zwischen „aus einer Sackgasse am Niederrhein“ und „beim Sportunterricht als Letztes gewählt“ geht mir durch den Kopf.
Der nachfragegesteuerte Algorithmus der Uber-App will 145 $ für eine Fahrt ins Hotel. Das ist mir zu teuer, also humple ich weiter zur U-Bahn. Wer mal Probleme mit dem Selbstwert hat, dem empfehle ich, mit Marathon-Medaille durch NYC zu laufen. Jeder Passant gratuliert mir. Mit der Medaille kann ich hier jetzt auch die nächsten Tage in zig Läden frei essen und trinken. Die Stadt trägt mich auf Händen.
Wie geht es weiter?
In der U-Bahn spricht mich ein New Yorker an. „Your first marathon? Where are you from?“ Ich berichte von meinen bisherigen Erfahrungen. Zweimal Corona-Marathon. Münster, Frankfurt, Chicago, New York. Dazu IRONMAN in Hamburg, Italien und Frankfurt.
Seine Analyse: „So you travelled two times to the US to run marathons and haven’t done your own Major Marathon in Berlin?“ Jut. Da bin ich argumentativ schachmatt. Ich verspreche ihm: Nächstes Jahr wird Berlin gelaufen. Ende der Diskussion.
Zwei Tage nach Zieleinlauf bin ich noch in New York und tippe diesen Blogbeitrag. Muss immer noch sagen, so ganz realisiert, was da passiert ist, habe ich noch nicht. Ich habe am größten Marathon aller Zeiten teilgenommen. Der New-York-City-Marathon 2025 hat alle Rekorde gebrochen mit knapp 60.000 Teilnehmern. Wahnsinn. Ich bin gespannt, ob das jemals so richtig in meinem Kopf ankommt.

Sehr schön geschrieben und alles so wunderbar auf den Punkt gebracht. Jede Zeile habe ich genossen, den ich habe den Marathon genauso empfunden und erlebt. Es war der Wahnsinn! See you next year in Berlin!