Chicago Marathon

Chicago, New York, Berlin, London, Tokio, Boston. Was sich auf den ersten Blick wie eine Aufzählung von Weltmetropolen anhört, ist wahrscheinlich die Bucket List von nicht wenigen Marathonläufern auf der Welt – mich eingeschlossen. Diese 6 Läufe bilden die sogenannten „Major 6 Marathons“. 10.000 Menschen auf der Welt haben alle 6 absolviert, darunter nur 800 Deutsche. Da mein Hausarzt in Bielefeld einer davon ist und mich die Urkunde im Wartezimmer schon immer beeindruckt hat, habe ich mich im letzten Jahr entschlossen, dieses Projekt für mich in Angriff zu nehmen.

Für New York, Chicago und Berlin hatte ich meinen Namen in den Lostopf geworfen (überall gibt es mehr Anmeldungen als Plätze) und tatsächlich direkt Losglück gehabt!
So klingelte am 13.10.2024 um 4.30 Uhr in einem Hotel im Norden von Chicago mein Wecker und ich mache mich bereit, meinen ersten Major-Marathon zu laufen.
Auch wenn es sich jedes Mal komisch anfühlt, wenn ich es in meinem Kopf durchzähle, aber es ist tatsächlich schon mein achter Marathon. Zweimal Corona Selfmade, Münster 2022, Frankfurt 2023 und dreimal im Rahmen eines Ironman. Nervös bin ich natürlich trotzdem.
Um 5 Uhr verlasse ich das Hotelzimmer, treffe schon die erste Läuferin auf dem Flur, die Bahn ist voller Läufer.

Alles voller Läufer

Ankunft im Park

Wie vom Veranstalter empfohlen, komme ich zwei Stunden vor dem Start im Grant Park an. Seit dem Anschlag auf den Boston Marathon 2013 sind die Sicherheitsvorkehrungen sehr hoch. Die Kontrollen sind aber schnell erledigt und so liege ich kurz nach 6 Uhr auf der Wiese im Grant Park und kann zwischen all den Läufern die Sonne über der beeindruckenden Skyline und dem Lake Michigan aufgehen sehen.

Wirklich beeindruckend

Nachdem ich dreimal aus Nervösität pinkeln war und meine Wechselklamotten eingecheckt habe, stelle ich mich in meiner Startgruppe auf. Die Musik ist laut. Blink 182, Green Day, Offspring – die Musikauswahl gefällt mir. Am Streckenrand tanzen viele Helfer. Das ist schon eine eigene Liga hier, was die Stimmung angeht.
Ich stehe in einem Starterfeld von über 50.000 Läuferinnen und Läufer. Einfach überwältigend.

Ein Meer von Läufern

Der Start

Das GPS meiner Uhr kann ich vergessen, das zeigt in den Häuserschluchten wirklich nur Mist an, aber Gott sei Dank gibt es nicht nur Meilen-, sondern auch Kilometerschilder. Die ersten 5 km vergehen wie im Flug. Perfekter Zeitpunkt um mal schnell pinkeln zu gehen, das Zeitpolster habe ich, also ab aufs Dixi.

Was ein Proll

Kurzer Blick aufs Handy um den Treffpunkt mit meinem Bruder abzustimmen. Nachricht per Whatsapp: „Bin bei Kilometer 8 gegenüber von Goethe“. Im Lincoln Park steht eine ziemlich imposante Goethe-Statue und so weiß ich, wo ich meinen Bruder finde.
Ich bin so euphorisiert, dass ich 20 Sekunden stehen bleibe, um ihm zu sagen, wie beeindruckend das alles ist. Weiter geht’s.
Schnell ist KM 10 erreicht, der nördlichste Punkt der Strecke. Wende und ab nach Süden. Bei KM 12 komme ich an unserem Hotel vorbei und treffe wieder auf meinen Bruder.

Noch bei bester Laune

Läuft

Für den KM15 habe ich mir vorgenommen, mich mit etwas eigener Musik zu belohnen. Also Airpods in die Ohren und los geht’s mit meiner eigenen Marathon-Playlist. Erster Song „Clueso – Chicago“. Wo könnte ich den besser hören als hier?
Funktioniert leider nicht so gut. Keine Ahnung, ob Bluetooth auch von diversen Signalen überlagert wird, der Empfang ist jedenfalls scheiße. Egal. Am Wegesrand läuft sowieso die ganze Zeit Musik.

Diese Kulisse einfach Non-Stop

Irgendwann werde ich angesprochen: Woher kommst du? Ich laufe nämlich im mindsquare Shirt, bin also von hinten durch den Schriftzug „mindsquare IT-Beratung und Entwicklung“ gut zu erkennen. „Bielefeld – und Du?“ – „Leer!“
„Ah, das ist Ostfriesland. Thiele oder Bünting Tee?“ – „Bünting!“ – „Viel Spaß noch.“
Meine Berater-Smalltalk-Skills sind einfach immer hilfreich!

Halbzeit

Ich fiebere KM 21 entgegen. Dort gibt es erstmals Maurten Gels, vorher nur Wasser und Iso. Ich habe selbst 8 Gels dabei, die habe ich bis jetzt alle genommen. Das letzte bei KM 19. Mein Plan war, hier meinen Laufgurt wieder mit Gels aufzufüllen. Aber schon von weitem sehe ich, dass die Helfer an der Verpflegungsstation nur High Fives verteilen und als ich dort ankomme, höre ich die Hiobsbotschaft „Wir haben keine Gels mehr“.

Na toll. Von einer Sekunde auf die andere ist meine Euphorie verflogen und ich brauche einen Plan B. Was mache ich jetzt? Ich habe noch zwei Gels. Es kommen noch zwei Verpflegungsstationen, an denen es Gels geben soll. Aber darauf ist jetzt natürlich Verlass. Das nächste Gel plane ich für KM25.

Langsam wird es hart

Dann bin ich insgesamt 6 km ohne neue Energiezufuhr gelaufen. So weit so gut, bei KM25 gibt es tatsächlich auch wieder Maurten am Streckenrand und ich kann meinen Laufgürtel wieder auffüllen. Aber wenn der Tank einmal leer ist, bekommt man ihn bei einem Marathon nicht mehr aufgefüllt und bei KM30 schlägt der Mann mit dem Hammer absolut grausam zu.

Der Mann mit dem Hammer

Natürlich lässt die Körperspannung nach, ich habe Schmerzen am ganzen Körper und es ist schrecklich, nach der Gehpause an der Verpflegungsstation wieder in den Schmerz hineinzulaufen.Das kennt jeder Marathonläufer und war auch bei meiner Bestzeit in Frankfurt nicht anders.Der Trick ist, einfach weiterzulaufen.Aber selbst wenn ich es schaffe, unter Schmerzen weiterzulaufen, ist mein Tempo maximal 9:30min/km.So etwas habe ich noch nie erlebt und es tut richtig weh. Im Körper und auch im Kopf.

Aber was soll ich sagen – die Kulisse entschädigt.Mexikanisches Viertel, Chinatown, es ist einfach unglaublich.Ich bin begeistert von der kulturellen Vielfalt dieser Stadt.Natürlich hat die Isolation bestimmter Bevölkerungsgruppen und Stadtteile auch negative Seiten, aber im Moment fühlt es sich einfach wie eine Weltreise an.

Nächste Station der Weltreise

Ausahmezustand

Ich kann sowieso nicht mehr ausrechnen, mit welcher Zeit ich ins Ziel komme und ganz im Ernst: Es ist auch scheißegal!Irgendwie bringe ich die letzten Kilometer hinter mich und bei Kilometer 41,5 kommt das, worauf hier keiner Bock hat – der Berg kurz vor dem Ziel.Aber was soll’s, ich weiß, gleich ist es geschafft.Ich gebe noch einmal Gas und versuche mit einem Lächeln ins Ziel zu laufen.Es gelingt mir nicht ganz.
Im folgenden Stream sieht man mich bei Ortszeit 1:51:50 über die Ziellinie laufen:
https://youtu.be/H_dgHAMAWWw?t=24689

Geschafft

Im Ziel

Im Ziel überwältigen mich wieder einmal die Emotionen.
Ich habe Tränen in den Augen.

Ich muss zugeben, dass folgendes nun ziemlich ernüchternd ist: Das Gelände ist riesig.Bis ich bei meinem Bruder ankomme, der mit einem kühlen Bier auf mich wartet, gehe ich noch 1,5 km.Diese Bewegung ist zwar super für die Regeneration, und der Muskelkater der nächsten Tage ist wirklich bei weitem nicht so schlimm wie erwartet, aber im Ernst: Am liebsten hätte ich mich hier im Ziel gleich ins Bett gelegt.

Medal Monday!

Was bleibt drei Tage später: Eine unglaublich tolle Erinnerung an ein ganz außergewöhnliches Erlebnis. So leid es mir als Vollblut-Triathlet auch tut, die Kulisse war um ein Vielfaches krasser als bei jedem Ironman. Wenn du jemals die Chance hast, einen Major 6 Marathon zu laufen: TU ES!

Wenn alles nach Plan läuft, werde ich es noch fünfmal machen 🙂

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